Editorial (2010)
Irgendwie ist es schon verrückt… Man hat sich damit abgefunden, dass etwas Geschichte ist, und dann wird man urplötzlich von eben dieser Geschichte eingeholt. Heute traf die Anfrage ein, ob Damaris Joy nicht bei der Promikon-Messe am 5. Februar 2011 im Gießener Audimax auftreten könnte im Rahmen der abendlichen Abschlussveranstaltung, die "50 Jahre christliche Popmusik in Deutschland" gebührend feiern wird. Mit dabei werden sein Siegfried Fietz, Manfred Siebald, Arno & Andreas – und gewiss noch ein paar andere "Grufties". Die Moderation des Abends hat Andreas Malessa.

Ob das nun auch alles so wird, ist zu dieser nächtlichen Stunde noch nicht ganz klar, aber es spricht eigentlich nichts dagegen, dass Damaris Joy diesen Abend mitgestaltet. Angefragt ist 1 Song, und wer trommelt, müsste auch noch geklärt werden, denn Basti Cuthbert (der letzte DJ-Trommler) wohnt mittlerweile mit seiner Familie in Hildesheim. Ich denke, man muss es einfach so sehen: Wir sind Teil der Geschichte der zeitgenössischen christlichen Musik in Deutschland, und dafür können wir uns gerne in Beschlag nehmen lassen. Wenn wir sozusagen "lebendiges Museum" sein können, dann ist das sehr viel mehr als gar kein Museum…

Zufälligerweise wird es im Februar 2011 ein weiteres Jubiläum geben: Siegfried Fietz wird 65 Jahre alt! Zu diesem Anlass hat Jan Vering in den Sommermonaten eine Biographie geschrieben, die im Februar erscheinen wird. Auch dieses Buch hat logischerweise mit Geschichte zu tun. Man wird an Namen und Ereignisse und Entwicklungen erinnert, und man erfährt vieles, was man bisher nicht so umfassend gewusst hatte. Ich hatte das Vorrecht, das Buch kurz vor seiner Schlussredaktion lesen zu dürfen und war geradezu überwältigt von dieser "Welt", die mir in vielen Teilen irgendwie bekannt war, aber deren Weite und Tiefe sich mir noch nie so eindrücklich erschlossen hat. Wer dem Thema "50 Jahre zeitgenössische christliche Musik in Deutschland" auf die Spur gehen will, der sollte dieses Buch unbedingt lesen!

Ja – auch Damaris Joy taucht in diesem Buch auf, wenn auch eher als Erwähnung am Rande. Für mich war das irgendwie komisch zu lesen – man wird genannt in einer geschichtlichen Darstellung, und man muss sich an den Gedanken gewöhnen, dass viele Menschen das genau so wahrnehmen werden. Da war mal was, aber es ist nicht mehr…

Das stimmt zweifelsohne, aber der "Wert" der Vergangenheit wird dadurch keineswegs gemindert. Uns persönlich sind die Dinge natürlich immer noch sehr nahe. Auch ein zeitlicher Abstand von über 20 Jahren trennt nicht wirklich von der Erinnerung an Zeiten, die im wahrsten Sinne des Wortes einmalig und einzigartig waren. Oder anders gesagt: Solche Zeiten wird es nie wieder geben, die "Luft" ist heute eine völlig andere. Warum? Die "Erfolgsgeschichte" der CCM-Szene in Deutschland basiert ganz wesentlich auf dem Faktum, dass die so genannten geburtenstarken Jahrgänge ihre eigene Identität und Kultur entwickelten, was ganz wesentlich mit den Ereignissen des Jahres 1968 zu tun hatte. Auch in den frommen Kreisen suchten die jungen Generationen ihren eigenen Weg, und die (moderne) Musik spielte dabei eine Schlüsselrolle. Sie konnte dem Lebensgefühl junger Menschen / junger Christen Gestalt und Ausdruck verleihen.

Wir (Damaris Joy) gehören sozusagen zur zweiten Generation der christlichen Musikszene in Deutschland. Unsere Zeit begann, als unsere Vorgänger die Instrumente aus der Hand legten oder – wie Siegfried Fietz, Manfred Siebald, Hella Heizmann, Jürgen Werth etc. – solistische Wege einschlugen. Wir haben viel von dem profitiert, was unsere Vorgänger in Sachen Türöffnung geschafft haben – uns war die Aufgabe zugedacht, die Türen weiter zu öffnen, sprich: die zeitgenössische christliche Musik in Deutschland populär zu machen. Und genau das ist uns gelungen – nein: es ist uns geschenkt gewesen! Wenn man mit vielen Jahren Abstand über diese irgendwie unglaublichen "Erfolge" nachdenkt, dann wird man sehr dankbar für das Vorrecht, dass wir als junge, dynamische Musikerchristen in einer bestimmten Phase der Entwicklung den Weg mitgestalten durften.

Deshalb ist mir persönlich klar, dass sich ähnliches heute nicht mehr entfalten kann. "Die Szene" gibt es sowieso nicht mehr, alles hat sich in viele kleine Unterszenen aufgeteilt und lässt kaum noch einen Zusammenhang entdecken. Oder anders gesagt: Damaris Joy hätte (als junge Band) heute keinerlei Chance mehr, so erfolgreich zu werden! Eine so hoch konzentrierte Mischung aus "Musik & Mission" würde heute zu den Dingen gehören, die man tunlichst vermeiden sollte, wenn man denn Erfolg haben will…

Aber auch die "Jugend von heute" hat die Musik, die zu ihr passt. Einen Teil davon kann man auf der Promikon-Messe live und lebendig erleben. Den "Senioren" der Szene ist die besondere Aufgabe gestellt, neue Wege zu ihrem Publikum von damals zu finden. Die "geburtenstarken Jahrgänge" kommen nun ins Rentenalter – eine überaus gute Gelegenheit, wieder mit ihnen ins Gespräch zu kommen (was sich keineswegs auf die Musik beschränken muss). Wenn der kleine Auftritt von Damaris Joy im Februar in Gießen dazu einen Beitrag leisten kann, dann wäre das jede Mühe wert. Ich freue mich schon jetzt auf den 5. Februar…! ;-)

Hans-Martin Wahler

11.08.2010


Editorial aktuell