Editorial
1986 | 1991 | 2020
 
Jahreszahlen mit besonderen Ereignissen in Beziehung zu stellen, ist schwierig, weil subjektiv, Aber es kann trotzdem den Blick weiten und Bezüge zu aktuellen Themen und Fragestellungen erkennbar machen.
 
1986 ist das Jahr der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl. Am 26. April 1986 explodierte der Reaktor-Block 4 des ukrainischen Kernkraftwerks, in weiten Teilen Europas wurde erhöhte Radioaktivtiät gemessen. Das Gebiet um Tschernobyl herum ist heute wohl wieder bewohnbar, aber noch immer müssen Nahrungsmittel aus der Region (insbesondere Wild) auf ihre "inneren Werte" geprüft werden. Am 10. Juli 2019 wurde der zweite und knapp 1 Milliarde Euro teure "Sarkophag" über dem Unglücksreaktor in Betrieb genommen. Die Konstruktion soll 100 Jahre lang radioaktive Ausstrahlungen von der Umwelt fernhalten.
 
1991 ist das Jahr des "Zweiten Golfkriegs" (The Gulf War, Operation Desert Shield / Operation Desert Storm). Der Konflikt begann am 2. August 1990 mit der Invasion Kuwaits durch irakische Truppen, am 16. Januar 1991 begannen die Kämpfe zur Befreiung Kuwaits. Der Krieg endete am 28. Februar 1991 mit der Kapitulation des Iraks.
 
2020 wird als das "Corona-Jahr" in die Annalen der Geschichte eingehen. Nach dem "Lockdown" im Frühjahr und den "Lockerungen" im Sommer mehren sich Sorgen über eine "zweite Welle" im Herbst und Winter. Mit Ostern sollte eigentlich alles vorüber sein, aber wie man mittlerweile sieht ist dies auch für Ostern 2021 keineswegs garantiert...
 
"Tschernobyl" ist relativ schmerzlos an uns vorbeigegangen bzw. über uns hinweggezogen (ich war damals in Stockholm). Die verseuchten Lebensmittel wurden seinerzeit im "Ostblock" kostenlos verteilt. Die Bürger der DDR wunderten sich über sonst nie verfügbares Gemüse in großen Mengen. Wir als Westbürger hätten uns allenfalls andere Lieferanten für Wildfleisch suchen müssen. Aber es war schon ein markantes Ereignis. Noch nie hatte es eine solche Katastrophe gegeben und man erkannte, dass Atomenergie keineswegs "sauber" war und auch keineswegs sicher. Und was sind schon 100 Jahre, wenn es um Atom"müll" geht...?
 
Der "Golfkrieg" war zwar nur kurz und eigentlich auch weit entfernt, aber er kam uns Bundesdeutschen doch sehr nahe, als die Medien berichteten, dass auf Seiten der amerikanischen Streitkräfte die gesamte Logistik dieses Krieges über Deutschland lief. Die "Ramstein Air Base" und das "Landstuhl Regional Medical Center" (das größte amerikanische Militärhospital außerhalb der USA) stellten sich auf einen Massenanfall an Verwundeten und Toten ein, Bilder von hunderten von leeren Leichensäcken und Aluminium-Särgen lösten 1990 einen Schock aus. Die Folge des Erschreckens und Aufwachens war ein "Lockdown" von Veranstaltungen, insbesondere im gemeindlichen Bereich. Ich hatte damals mit "A/M-Concerts" mit vielen Konzerten zu tun. Knapp 30 sehr gute Interpreten (Bands, Solisten) aus dem nationalen (BRD + DDR) und europäischen Bereich wurden von uns in Westdeutschland vermittelt und betreut – und auf einmal traf eine Konzertabsage nach der anderen ein. Keine Verschiebungen, sondern durchweg Absagen! Die Gemeinden bekamen Angst, in der so erschreckenden und ungewissen Situation Konzerte zu veranstalten. Binnen weniger Wochen waren alle Konzertbuchungen storniert und es gab keine neuen Konzerte zu vermitteln und zu betreuen. Es blieb uns dann nichts anderes übrig, als den Künstlern den Auftrag der Konzertbetreuung wieder zurückzugeben und die Arbeit einzustellen. Die Konzertlandschaft brauchte etwa zwei Jahre, um wieder "normal" zu funktionieren. Die Zeit der Bands war mit dieser Zäsur allerdings definitiv zu Ende und damit letztlich auch die Ära eigenständiger christlicher Musik. Es begann die Zeit der Dominanz der Praise- & Worship-Songs.
 
Der "Lockdown" im März 2020 passierte deutlich schneller und umfassender. Per staatlicher Anordnung mussten sämtliche Veranstaltungen abgesagt werden, nicht nur Konzerte. Relativ schnell wurde es zur Gepflogenheit, sich um genau ein Jahr zu "vertagen" – mit der Hoffnung, dass der "Spuk" im März/April 2021 lange vorbei sein würde. Viele hofften auch darauf, dass schon der Herbst 2020 weitestgehend unbeschadet ablaufen würde. Im Spätsommer 2020 erkennt man, dass die Hoffnung trügerisch war. Es sind vor allem die "Abstands- und Hygieneregeln", die einen dramatischen Kahlschlag zur Folge haben werden. Chorkonzerte zu Weihnachten? Wohl kaum. Für Chöre beispielsweise gibt es keine Proben, die man Proben nennen könnte; Singen und Zuhören auf 3 Metern Abstand funktioniert einfach nicht. Und Proben an der frischen Luft sind im Winter auch nicht unbedingt prickelnd. Folglich werden derzeit auch Planungen für Herbst, Winter und Frühjahr revidiert, genauer gesagt: gestrichen. Und was einmal gestrichen ist, das kommt nicht so schnell wieder auf die Tagesordnung. Wann wird es wieder mal ein christliches Konzert oder einen Worshipabend geben? Der Bildschirm wird den Live-Betrieb definitiv nicht ersetzen können. Mit den Folgen des 1,x-Jahres-Lockdowns werden wir mit Sicherheit länger als zwei Jahre zu tun haben.
 
Die erwähnten drei Ereignisse stehen in keinem direkten Zusammenhang. Was sie (speziell Golfkrieg und Corona) verbindet, ist das "Katastrophale" ihrer Auswirkungen auf die Psyche des frommen Volks. Aus unserem Selbstverständnis heraus würden wir uns selbst ja gerne als "Hoffungsträger" bezeichnen wollen, aber wie und wo wird das für die Menschen unserer Zeit sichtbar und erlebbar? Gewiss, auch Gottesdienste leiden unter den derzeitigen Vorschriften, aber NICHTS stattfinden zu lassen bzw. nur virtuell "irgendwo" aufzutauchen, kann es das sein? Wo treten die christlichen Musiker heutzutage auf? Wo sind die kleinen Konzerte, die überall stattfinden könnten? Warum sind insbesondere die jungen Worship-Bands untergetaucht? Wie und wo könnte man heute Menschen erreichen...?
 
 Helmut Jost & Ruthild Wilson, 2020
 
Dieses Bild passt prima in den Sommer 2020. Es zeigt den Auftritt von Helmut Jost & Ruthild Wilson am 5. Juli im Rahmen der Konzertreihe "Sonntagnachmittag um 4 im Schlossgarten" in Siegen, die seit 1982 von der Kulturabteilung der Stadt veranstaltet wird. In diesem Jahr begannen die Open-Air-Konzerte am 17. Mai und werden am 6. September enden. Eigentlich sollte an diesem Sonntagnachmittag im Juli der Siegen Gospel Choir auftreten, der in 2020 sein 20-jähriges Jubiläum feiert. Wegen Corona-bedingt fehlender Proben musste das Konzert für den Chor jedoch ausfallen. Es erklangen dieselben Lieder, aber halt nur mit zwei Stimmen… Helmut Jost und ich haben dieses Chor-Projekt in 2000 gestartet. Seit 2005 betreue ich die Beschallung der kompletten Konzertreihe, was pro Saison etwa 18 Termine umfasst und von Bands und Bigbands über Orchester und Blasorchester bis Chöre und Folkformationen reicht. Aber manchmal wird auch nur ein einziges Moderationsmikrofon benötigt, deshalb ist es schön, dass sich heutzutage (fast) alles auch per iPad regeln lässt. Und die nächste Generation von Beschallern steht auch schon am Start...

Avocado, 1987

Ein Blick zurück auf den 5. Juli 1987. Damaris Joy und Avocado (Bild) bei "Sonntagnachmittag um 4 im Schlossgarten" auf den Tag genau vor 33 Jahren.




Seitens der lokalen frommen Musikszene und insbesondere der Worship-Szene gibt es wenig bis kein Interesse, bei dieser "säkularen" Konzertreihe aufzutreten und mit seiner Musik ein neues oder anderes Publikum zu erreichen. Momentan teilen sich Siegen Gospel Choir und Gospel Generation diese "Aufgabe" und wechseln sich von Jahr zu Jahr ab. In allen Zeiten werden "neue Wege" gebraucht, um Menschen zu erreichen. Hier würde dazu die Möglichkeit bestehen. Es sind "die Alten", die tun, was eigentlich Jüngere tun müssten. Natürlich ist es nicht schön, wenn man sich um einen Auftritt bewerben muss und auch mal eine Absage erhalten kann. Aber muss man immer "gefragt" werden, um "gefragt" zu sein? Oder hat man nichts zu bieten und nichts zu sagen? Dieser Zustand hat nichts mit Tschernobyl, dem Golfkrieg oder Corona zu tun. Das große gelbe Zeltdach im Schlosspark und "Sonntagnachmittag um 4" haben bisher alles überlebt…

Anvil-Case, 2020

Ein kleines Detail am Rande… ;-) Der blaue Aktenkoffer-Flightcase ist ein original Anvil-Case aus den USA (erworben auf der Musikmesse in Frankfurt) und wurde schon zu Damaris Joy-Zeiten genutzt.





Auch Damaris Joy ist mehrfach in dieser Konzertreihe aufgetreten und hält sogar den absoluten Besucherrekord von über 2000 Besuchern am 23. Juni 1985, die sich damals im gesamten Schlosspark verteilen konnten. Seinerzeit gab es noch keine festen Sitzplätze. So viel Besucher müssen es sicherlich nicht sein. Es reicht schon, wenn man 200 Besucher plus Zaungäste mit guter christlicher Musik begeistern und gewinnen kann, so wie es Helmut und Ruthild an diesem denkwürdigen Sonntag im Juli 2020 demonstriert haben.

Hans-Martin Wahler

01.08.2020

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